von Ferdinand Hefemer
Franz Gengenbacher, der Sohn von Ameli und Edgar Gengenbacher hatte nach seiner Fachhochschulreife eine Schreinerlehre absolviert, die er im Sommer erfolgreich beendet hat. Als Jahrgangsbester hatte er eine Anerkennungsurkunde der Handwerkskammer erhalten. Er wollte nun noch ein knappes Jahr lang als Schreiner Erfahrung sammeln, bevor er dann sein Studium der Holztechnik in Rosenheim aufzunehmen gedachte.
Davor wollte er aber noch etwas erleben. Sein Freund Diego Meier, dessen Mutter aus Peru stammt, hatte ihm davon geschwärmt, wie schön das Land Peru sei. Er erzählte auch von Freunden, die dort wohnten, sich in den einsamen Regionen der Anden auskannten und tolle Exkursionen organisieren könnten.
Franz hatte einiges gespart und sein Vater hatte ihm ob des guten Ergebnisses in der Gesellenprüfung noch einen ordentlichen Batzen draufgelegt, sodass er genügend Geld hatte, um für einige Wochen nach Peru zu fliegen und einen einfachen Unterhalt dort zu bestreiten. Er und Diego wollten Anfang September abreisen und Ende Oktober wieder zurückkommen. Schließlich hatte Franz seinem Lehrmeister versprochen, ab November als Geselle in dessen Betrieb zu arbeiten.
Am dritten September abends flogen Franz und Diego ab, gespannt auf das, was sie erwartete. Nach der Ankunft in Lima sandte Franz an seine Eltern eine kurze Mail, mit der Mitteilung, dass sie sicher gelandet seien und nun in ein einfaches Hotel zögen. Dann erhielten Gengenbachers längere Zeit keine Nachricht mehr.
Nach zehn Tagen kam wieder eine Nachricht: „Wir starten jetzt zu einer Exkursion in die Anden, die vermutlich vierzehn Tage dauern wird. In der Zeit kann ich Euch keine Nachrichten übersenden.“
Die zwei Wochen vergingen. Aber auch danach war nichts mehr von Franz zu hören. Es gingen weitere Wochen ins Land. Eigentlich sollte Franz schon wieder in Lima sein, von wo aus er mit seinem Mobiltelefon hätte telefonieren können. Alle Versuche, Franz über sein Telefon zu erreichen, schlugen aber fehl. Ameli Gengenbacher wurde von Tag zu Tag verzweifelter.
Am dreizehnten Oktober klingelte der Briefträger und übergab ihr ein Einschreiben mit Rückschein. Als Absender las sie „Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland“. Sie unterschrieb zitternd den Rückschein und riss sofort das Kuvert auf. Dort stand:
„Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass ihr Sohn Franz Gengenbacher am zweiten Oktober in Lima, Peru wegen des Verdachts auf Beteiligung am Rauschgifthandel festgenommen worden ist. Er befindet ich z.Zt. im Penal de Lurigancho, dem zentralen Gefängnis von Peru in Untersuchungshaft. Die deutsche Botschaft in Lima ist bereit, Ihrem Sohn einen Verteidiger an die Seite zu stellen. Dazu benötigen wir allerdings eine Zusage Ihrerseits zur Kostenübernahme. Wir bitten um kurzfristige Rückantwort.“
Ameli musste sich setzen. Ihr wurde schwindelig. Ihr Franz ein Rauschgiftschmuggler? Das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Sie rief sofort
Edgar an, der in seiner Dienststelle alles stehen und liegen ließ und auf den Dilsberg fuhr. Dort fand er seine aufgelöste Frau vor, die nur noch weinte. Nach einer Weile des Innehaltens und Nachdenkens griff Edgar zum Telefon und versuchte Kontakt zum Auswärtigen Amt aufzunehmen. Nach mehreren Vermittlungen wurde ihm schließlich mitgeteilt, er solle auf das Anschreiben antworten. Mehr könne man im Moment nichts für ihn tun. Edgar setzte sich umgehend an seinen PC und verfasste eine Kostenübernahmezusage für einen peruanischen Rechtsanwalt, die er sofort zur Post brachte.
Ameli suchte in Telefonaten mit ihrem Bruder und ihren besten Freundinnen nach Trost, den sie aber nicht immer fand, weil manche der Angesprochenen davon berichteten, dass sie Schilderungen über schlimme Zustände in südamerikanischen Gefängnissen gelesen hätten. Edgar versuchte sie daher davon abzubringen, alle möglichen Leuten von ihrem Los zu erzählen.
Nach langem Warten erhielten Gengenbachs endlich ein Schreiben eines Rechtsanwaltes Garcia aus Lima in englischer Sprache. Darin teilte er ihnen mit, dass ihr Sohn wegen der Beteiligung an einem Rauschgifthandel festgenommen worden und in dem besagten Gefängnis untergebracht sei. Er sei verhört worden und habe eine Beteiligung an Rauschgifthandel bestritten. Er habe lediglich zugegeben, an einer Exkursion in die Anden teilgenommen zu haben. Er habe nicht mitbekommen, dass die Organisatoren dieses Trips unterwegs auch Kokain in größeren Mengen eingekauft hätten. Er habe lediglich ein Mal gekifft, was ihm nicht gut bekommen sei.
Herr Garcia sprach noch die Vermutung aus, dass nach seiner Erfahrung ein Prozess Ende Januar oder Anfang Februar stattfinden werde.
Abschließend fügte er hinzu, dass er im Falle einer Verurteilung ihres Sohnes zu einer Gefängnisstrafe versuchen werde, über die deutsche Botschaft seine Abschiebung nach Deutschland zu veranlassen. Allerdings müsse er dann damit rechnen, in Deutschland zumindest einen Teil der in Peru verhängten Strafe abzusitzen.
Ameli und Edgar waren erschüttert. Sie hatten immer noch gehofft, dass Franz seine Unschuld beweisen und nach Hause zurückkehren könnte. Aber offensichtlich sah der Anwalt keine Chance, eine Verurteilung vom Franz zu verhindern.
Eines Abends, gerade als sie zu Bett gehen wollten, um wieder eine fast schlaflose Nacht hinter sich zu bringen, klingelte das Telefon. Beide zuckten zusammen, da sie sich nicht vorstellen konnten, wer so spät noch anrief. Edgar nahm seinen Mut zusammen und nahm ab. „Garcia“ meldete sich am Telefon. „I am here with your son. Just a moment…“ Dann hörte er eine Zeitlang nichts mehr bis ein „Hallo Papa…“ zu hören war. „Ich darf nur ganz kurz was sagen. Es ist hier alles furchtbar, aber ich habe mich inzwischen mit allem arrangiert. Macht Euch keine Sorgen. Ich werde das alles überstehen“. Dann hörten sie noch ein „Adios“ und das Gespräch war zu Ende.
Edgar und Ameli fielen sich in die Arme und weinten. Endlich haben sie ihren Franz wieder gehört. Und er scheint doch nicht aufzugeben, sondern zuversichtlich zu sein.
Nunmehr vergingen Wochen, ohne dass sie wieder etwas gehört hätten. Die Versuche, den Anwalt anzurufen schlugen immer wieder fehl, da am Telefon lediglich eine nur spanisch sprechende Frau saß. Aber offensichtlich hatte sie die Anrufe weitergegeben. Denn Anfang Dezember kam schließlich ein kurzer Brief von Rechtsanwalt Garcia mit dem er mitteilte, dass der Prozess für Anfang Februar anberaumt sei. Und dann stand da noch etwas, der sybillinisch klang, aber ihnen doch Hoffnung machte. Garcia sah wohl noch eine „special chance“, über die er aber nicht reden könne.
Weihnachten rückte immer näher. Das wird für Ameli und Edgar jetzt also das erste Weihnachten ohne eines ihrer Kinder sein, da ihre Tochter Anna, die seit zwei Jahren in Australien lebte auch nicht wegen des heimischen Weihnachtsfestes den australischen Sommer verlassen wollte.
Weder Ameli noch Edgar hatten Lust auf Weihnachtsvorbereitungen. Wozu brauchte man einen Christbaum. Da sie nur zu zweit waren hatte das doch alles keinen Sinn. Sie wollten alleine bleiben und dieses Jahr auch nicht – wie sonst üblich – mit der Verwandtschaft sich in der „Sonne“ treffen. Und ob sie zur Christmette gehen wollten, das waren sie sich auch nicht sicher. Würden sie dort doch nur von anderen Leuten angesprochen, bemitleidet oder mit dummen Ratschlägen belästigt werden.
Am 23. Dezember gegen 20 Uhr klingelte es Sturm. Ameli und Edgar schauten sich verunsichert an. Was sollte das wieder bedeuten. Edgar öffnete zunächst nur einen kleinen Spalt der Haustür und sah, dass ein Postbote dort stand. „Ein Telegramm für Gengenbacher. Sind sie das? Unterschreiben sie bitte hier.“ Und schon verschwand der Mann wieder in seinem gelben PKW.
Ameli riss Edgar das Telegramm aus der Hand. Absender: Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland. Fast hätte sie es zerrissen vor lauter Aufregung. Als sie aber den Text las, brach sie in Tränen aus: „Franz Gengenbacher kommt morgen, Samstag, den 24. Dezember um 12.15 Uhr mit dem Flug Iberia L3785 aus Lima –
Meier, Auswärtiges Amt – Sektion Südamerika.“
Edgar, dem Ameli das Telegramm vorgelesen hatte, wollte es aber selbst noch einmal lesen, um auch zu glauben, was darinstand. Beide fielen sich in die Arme und schluchzten. Sollte es war sein, dass der Alptraum, den sie gerade erleben, nun zu Ende geht?
Edgar setzte sich sofort an seinen PC, um den Flugplan zu studieren. Der Flug mit der angegebenen Nummer sollte tatsächlich am nächsten Tag um 12.15 Uhr am Terminal 2 des Frankfurter Flughafens ankommen. Nach dieser Recherche, die ihnen nochmals Sicherheit gab, holte Edgar eine Flasche echten Champagners aus dem Keller, der dort seit Jahren auf einen besonderen Anlass gewartet hatte. Als die Flasche leer war, fielen sie selig ins Bett. Schlafen konnten sie eigentlich nicht richtig. Aber diese Schlaflosigkeit war auszuhalten, war sie doch eine aufgrund froher Erwartung.
Am Morgen des 24. Dezember saßen die Gengenbachs bereits um halb neun Uhr im Auto, um nach Frankfurt zu fahren. Sie wollten unbedingt frühzeitig ankommen. Es klappte dann auch alles wunderbar. Sie fanden einen Parkplatz am Terminal 2 des Frankfurter Flughafens. Nachdem sie sich durch den Flughafendschungel durchgeschlagen hatten, waren es dann noch eineinhalb lange Stunden, bis das Flugzeug landen sollte. So viel Kaffee hatten sie noch selten getrunken, wie in der Zeit des Wartens an der Kaffeebar des Terminals.
Es war kurz vor zwölf Uhr, als an der Tafel angezeigt wurde, dass das Flugzeug aus Lima gelandet sei. Und schon standen sie vor der Ausgangstür des Flugsteiges und warteten. Die ersten Fluggäste kamen heraus, aber Franz war nicht dabei. Dann kam ein großer Pulk mit meistens gut gelaunten Fluggästen, doch Franz war wieder nicht unter ihnen. Schließlich kam niemand mehr. Ameli liefen schon die Tränen über die Wangen, da ergriff Edgar die Initiative und fragte einen Beamten der Bundespolizei, der am Ausgang wartete.
Der war so freundlich und ging auf Erkundigung. Nach bangen zehn Minuten kam er zurück. „Franz Gengenbach ist ja vom Auswärtigen Amt überführt worden. Deshalb wird er gerade von der Bundespolizei verhört. Das kann dauern. Da müssen sie sich schon etwas gedulden.“
Es dauerte eine Stunde, zwei Stunden. Ameli drängte Edgar, er solle doch bei der Bundespolizei nachfragen, wie lange es noch dauere. Der weigerte sich aber: „Du hast ja gehört, er wird verhört. Und ein solches Verhör wird sicherlich nicht dadurch kürzer, dass wir ständig nachfragen.“ Ameli hatte kein Verständnis für diese Antwort und so hätten die beiden wegen ihrer Meinungsverschiedenheit beinahe noch Streit bekommen.
Endlich ging um 15:30 Uhr eine Seitentür auf und heraus kam ein dürrer, sehr ernst dreinblickender junger Mann in Begleitung eines Polizeibeamten. Ameli musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass das ihr Sohn war: Dies abgemagerte Gestalt mit fast kahl geschorenem Schädel. Während sie Franz in den Arm nahm und schluchzte, teilte der Beamte Edgar mit, dass sich Franz nach den Feiertagen noch zur Verfügung der Polizei halten müsse. Er würde entsprechend benachrichtigt werden.
Dann endlich konnte auch der Vater seinen Sohn in den Arm nehmen. Sie drückten sich anhaltend. Edgar fasste sich wieder. Und mit einem „Komm, du Abenteurer“ versuchte er die Situation auf dem Weg zum Parkhaus zu entspannen. Mit einem „Dein Gepäck!“ wollte Ameli aufmerksam machen, dass sie Franzens Gepäck vergessen hätten. „Mein Gepäck“ erwiderte Franz „das ist irgendwo in Lima. Das ist jetzt aber auch egal“. Edgar stimmte Franz unumwunden zu: „Was interessiert uns jetzt noch dein Gepäck. Sind wir froh, dass wir Dich wieder bei uns haben.“
Die Fahrt zum Dilsberg empfanden die Gengenbachers als viel zu lang. Sie konnten es kaum erwarten, zuhause anzukommen. Als sie in die Neuhofer Straße einbogen, war es schon dunkel. Aber die Fenster in den Häusern leuchteten festlich.
„Dass ich so etwas Feierliches noch erleben darf, daran habe ich zeitweise nicht mehr geglaubt,“ sagte Franz nachdenklich. Im kaum festlich geschmückten Wohnzimmer nahmen sie zunächst Platz. Das übliche Festtagsessen war nicht vorbereitet. Aber alle drei aßen mit wiedergewonnenem Appetit das, was der Kühlschrank hergab.
Nach jedem zweiten Bissen sagte Franz „so was Köstliches habe ich schon lange nicht mehr gegessen“.
Nach dem Essen drängte Ameli: „Franz, jetzt erzähle mal, was und wie alles abgelaufen ist!“ Doch Franz antwortete kurz und knapp: „Heute nicht mehr. Lasst mich einfach zunächst in Ruhe. Ich habe Schlimmes erlebt und das muss ich alles noch selbst verdauen.“
Und nach kurzer Pause stellte er die Frage, ob sie denn heute am Heiligen Abend nicht so wie immer in die Christmette gehen wollten?“
Die Eltern waren erstaunt über die Frage. Damit hatten sie nicht gerechnet. „Wenn Du das willst, dann hole ich gleich Deinen Anzug und dann gehen wir um zehn Uhr in die Christmette“ antwortete Ameli.
Als sie sich alle feierlich gekleidet hatten, erschrak Ameli erneut. Der Anzug, den Franz im Sommer noch gut ausgefüllt hatte, der hing nun wie ein Sack an ihm. So war er abgemagert.
Der Gottesdienst berührte alle drei Gengenbachs. Die Dankbarkeit darüber, dass sie gemeinsam Weihnachten feiern konnten, übermannte sie so sehr, dass auch während des Gottesdienstes manche Träne rollte. Zum Glück hatten die meisten Gottesdienstbesucher die spät in die letzte Bank sich schiebende Familie Gengenbach nicht gesehen.
Aber als nach Ende des Gottesdienstes der Pfarrer plötzlich ausrief „Wir begrüßen in dieser Heiligen Nacht ganz besonders auch unseren verlorenen Sohn Franz Gengenbacher!“, da war kein Halten mehr. Franz musste ganz viele Hände schütteln und Glückwünsche entgegennehmen, obwohl ihm das eigentlich unangenehm war. Aber die Teilnahme der Gottesdienstbesucher rührte ihn auch wieder. Er hatte bisher noch nicht wahrgenommen, wie wichtig doch auch Wurzeln sind.
Zuhause erlebten die Gengenbachs eine ungewöhnlichen Heiligen Abend: Es gab keinen Christbaum, so gut wie keine Geschenke. Aber ein Treffen mit Schwester Bianca über Skype, die von den ganzen Ereignissen nur wenig mitbekommen hatte.
Bachs Weihnachtsoratorium war dann der Balsam für die Seele, der alle zur Ruhe kommen ließ.
Übrigens: Warum Franz so plötzlich aus peruanischer Haft entlassen worden ist, das ist nie bekannt geworden. Eine Erklärung könnte die enorme Summe von achttausend Euro Rechtsanwaltsgebühren sein, die Edgar über das Auswärtige Amt nach Lima zu überweisen hatte.