Das besondere Weihnachtsgeschenk 1968

Von Ferdinand Hefemer

Beate Imhausen war ein fröhliches Kind von 12 Jahren. Sie lebte als einziges Kind bei Fred und Anne Imhausen in einem neu gebauten Haus im Neuhof. Zuvor hatten sie im Dachgeschoss eines alten Hauses in der Unteren Straße ein sehr beengtes, aber fröhliches Leben geführt.

Im Sommer des vergangenen Jahres erst hatte Beate erfahren, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist, sondern dass sie – wenige Wochen alt – von ihren Eltern adoptiert worden war. Das hat sie zunächst schockiert, weil das eine Nachbarin ohne Vorbereitung ausgeplaudert hat.  Aber sie liebte ihre Eltern, die nun plötzlich Adoptiveltern waren und besaß eigentlich alles, was sie benötigte. Was sie störte, waren aber die vielen oft kränkenden Fragen, die ihr nun von neugierigen und z.T. distanzlosen Nachbarn und Kindern gestellt wurden, ohne dass sie diese beantworten konnte und wollte. Aber irgendwann waren die kränkenden Fragen auch vorbei und Beate war wieder ein Kind wie alle anderen auch. Nur wenn es Streit gab unter den Kindern, da packte manchmal eines von ihnen „Du bist ja nur ein Adoptivkind“ aus, um Beate zu ärgern.

Es war kurz vor dem Ersten Advent, als der Briefträger Mayer bei Familie Imhausen klingelte, um, wie er mitteilte, einen Einschreibebrief aus dem Ausland abzugeben. Das  Kuvert war an Beate Imhausen adressiert. Als Beate es entgegennehmen wollte hielt sie Herr Mayer zurück: „Du musst hier noch die Empfangsbescheinigung unterschreiben und da du noch nicht volljährig bist, muss auch noch Deine Mutter mitunterschreiben.“ 

So rief Beate ihre Mutter, die nach ihrer Unterschrift das Kuvert etwas zögernd in Empfang nahm. „Der Brief kommt ja aus den USA,“ stellte sie mit Erstaunen fest. „Was hast Du mit den USA zu tun?“ fragte sie Beate. Briefträger Müller spitzte seine Ohren und wartete geduldig, bis er alle Unterschriften und ein Trinkgeld erhalten hatte. Was wohl in einem Einschreibebrief aus USA enthalten sein sollte, das beschäftigte ihn dann doch.

Anne Imhausen öffnete den Brief. Er kam von aus Charlston – South Carolina – USA. Sie versuchte den Brief zu lesen und stellte schnell fest, dass sie mit dem wenigen Englisch, das sie in der Schule gelernt hatte, den Text nicht verstehen konnte. Sie vertröstete Beate: “Warten wir, bis Papa heute abend nach Hause kommt, der hat mehr Englisch gelernt als ich und schließlich muss er auch in seinem Beruf einige Brocken Englisch beherrschen“.

Als Fred Imhausen am Abend die Haustüre aufschloss, wurde er schon von Beate überfallen: „Wir haben einen Brief von einer Frau aus Amerika bekommen. Der ist sogar an mich adressiert. Aber Mama konnte ihn nicht lesen. Geh ganz schnell ins Wohnzimmer. Dort liegt der Brief auf dem Tisch. Du musst uns unbedingt sagen, was in dem Brief steht.“ „Jetzt nur mal langsam,“ antwortete Fred. „Zuerst wollen wir einmal zu Abend essen und dann hat es noch genügend Zeit, um fremde Briefe zu lesen“. „Das ist kein fremder Brief, das ist ein Brief an mich und dort steht sicherlich etwas ganz Wichtiges drin, sonst wäre es nicht ein Einschreibebrief“, quängelte Beate.

Nachdem auch Anne Fred gebeten hatte, das Schreiben doch vor dem Abendessen zu lesen, setzte sich Fred murrend an den Esstisch und begann zu lesen. Beate hüpfte aufgeregt um ihn herum und bettelte ständig: „Sag doch, was steht da drin?“ Aber Fred rührte sich nicht. Es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten bevor Fred den Brief auf den Tisch legte und verkündete: „Also, das meiste habe ich verstanden. Eine Frau Scarlett Miller schreibt, sie sei die Tochter von Fred Miller aus dessen erster Ehe. Dieser war in zweiter Ehe mit Gudrun Miller, geb. Katzenberger verheiratet. Ihre Eltern seien vor einigen Monaten durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Daher gebe es nun eine „Heritage“ – das muss wohl „Erbe“ heißen – zu verteilen. Das Ehepaar Miller hat darin verfügt, dass dieses zwischen ihr, als ältester Tochter aus erster Ehe des Fred Miller und dem von Gudrun Miller in Deutschland geborenen Kind namens Emmy Katzenberger zu verteilen sei. Das Testament habe sie vom Rechtsanwalt ihrer Eltern erhalten. 

Dann entstand wieder eine Pause.  Fred fuhr fort: „Frau Miller teilt noch mit, dass sie nach langem Suchen über das Deutsche Konsulat in Columbia erfahren hätte, dass Emmy Katzenmeier sich heute Beate Imhausen nenne und in Neckargemünd in Deutschland wohne. Dann fragt sie an, ob sie – da das Office in dem sie arbeitet, vom 20. Dezember bis 6. Januar geschlossen hätte, nicht in der Zeit um Weihnachten nach Deutschland kommen könne, um alles zu dieser „Heritage“ zu besprechen.“

Absender: Scarlett Miller, Hillroad 6, 29420 Charlston – South Carolina - USA

Bei Familie Imhausen trat ein langes Schweigen ein. Zu seltsam war die Nachricht die Fred vorgelesen hat. Dann fügte Fred noch hinzu: „Ach ja, sie fragt noch, ob wir ihr ab 21. Dezember bis zum 25. Dezember ein Hotel für sie in Heidelberg besorgen könnten. Sie wolle die Stadt schon lange kennenlernen, sei doch ihr Vater nach dem 2. Weltkrieg als amerikanischer Soldat dort stationiert gewesen und an „Christmas“ sollen in Deutschland die Städte besonders schön geschmückt sein.“

„Oh je, da kommt etwas auf uns zu, ob das wohl eine wahrhaftige Nachricht ist oder irgendeine Finte einer uns vollkommen unbekannten amerikanischer Person?“ fragte Anne nach einer gewissen Zeit.

Alle drei Imhausens grübelten. Die Stille beendete Beate mit der Feststellung: „Aber ich möchte meine Fast-Schwester kennenlernen,  das ist doch diese Frau Miller –  . Und wer weiß, was sie noch über meine richtige Mutter erzählen kann.

Fred drängte jetzt zum Abendessen und beschloss die beginnende Diskussion über das soeben Erfahrene mit den Worten: „Ich werde meinen Freund Heino Bember zu der Angelegenheit befragen, der ist Rechtsanwalt mit der Spezialisierung für internationales Recht.“

Es vergingen zwei Tage, bis Fred seinen Freund Heino erreicht hatte. Der sah in der Angelegenheit kein größeres Risiko. Wenn alles schief gehe, blieben die Imhausens  höchstens auf den Kosten für das Hotel sitzen, das sie reservieren sollten. Mehr könnte eigentlich nicht passieren.

Also suchte Fred in den drauffolgenden Tagen verzweifelt nach einem Hotel in Heidelberg. Alles schien in dieser Zeit ausgebucht. Schließlich bekam er im Hotel „Zum Ritter“, gegenüber der Heilig-Geist-Kirche noch ein Dachzimmer, das eigentlich für Hotelpersonal vorgesehen war.

Imhausens schrieben eine freundliche Einladung an Scarlett Miller. Ihr netter irischer Nachbar hatte vorsichtshalber Korrektur gelesen. Bereits einige Tage später kam ein Telegramm: Fred las und übersetzte: „Können Sie mich am Flughafen in Frankfurt abholen? Flugzeug landet Samstag den 21. Dezember um 16:00 Uhr.  Flugnummer UA 932. Mein Kennzeichen: US-Papierfahne.“

Für Beate verflogen die Wochen bis zum 21. Dezember wie nichts. Alle ihre Gedanken waren dieses Jahr weniger auf Weihnachten als auf die fremde Frau Miller gerichtet.

Dann war der 21.Dezember da. Am Morgen setzte leichter Schneefall ein. Als Imhausens sich auf den Weg nach Frankfurt machten, strahlte ihnen die weiß bedeckte Feste entgegen.

„Da wird sich Frau Miller aber freuen, wenn sie das sieht“ bemerkte Fred, „denn dort, wo sie herkommt, gibt es keinen Schnee!“

Die Fahrt nach Frankfurt zog sich für Beate zu lange hin und jeder kurze Stau auf der Autobahn versetzte sie in Angst und Schrecken, sie könnten am Flughafen ihre Besucherin verpassen. Als die Familie Imhausen im Flughafenparkhaus angekommen waren, eilten sie zum Terminal 2 und den ausgewiesenen Ausgang B.

Sie mussten nicht lange waren, bis eine chic gekleidete junge Frau ihren Gepäckwagen durch die Glastüre schob und mit einem kleinen USA-Fähnchen wedelte. Fred ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Dann stellte er Mutter Anne und Beate vor. Das „Nice to see you“ der Dame – sie war wohl so um die Mitte dreißig Jahre alt – verstand Beate noch, mehr aber auch nicht. Dann gings zum Auto.

Auf der Fahrt nach Heidelberg versuchte Fred ein wenig über das Wetter in South Carolina und sonstige unbedeutende Belange mit Miss Miller zu sprechen. Diese war aber von der Reise offensichtlich so müde, dass sie nur kurze Bemerkungen von sich gab.

Im Karlsplatz-Parkhaus in Heidelberg angekommen, begleitete Familie Imhausen ihre Besucherin mitten durch den Trubel des Weihnachtsmarktes zum Hotel Ritter. Trotz ihrer Müdigkeit brach Miss Miller immer wieder in Laute Bewunderung aus, ob der üppig geschmückten Weihnachtsmarktbuden.

Fred bot ihr noch an, sie am nächsten Tag um 11 Uhr abzuholen, „to have a little meal together in Dilsberg“ (um eine kleine Mahlzeit in Dilsberg einzunehmen).

Am nächsten Tag wollte Beate ihren Papa zu begleiten, um Miss Miller abzuholen. Diese stand schon vor dem Hotel, um Fred und Beate zu erwarten. Unterwegs schwärmte sie von der Atmosphäre in Heidelberg und dem Weihnachtsmarkt, über den sie doch noch am Abend vorher gegangen war. What`s that, Glühwein?“ fragte sie die beiden. Die Antwort kam prompt: „Hot red wine with herbs. – You can get some more at our home. (Heißer Rotwein mit Kräutern. Sie können noch welchen bei uns zuhause bekommen).“

Anne hatte schon das typisch süddeutsche Winter-Mittagessen vorbereitet: Rinderbraten mit Rotkraut und Spätzle. „Why not potatoes. I thougt in Germany all people ar eating  potatoes,“ (Warum keine Kartoffeln, ich dachte, in Deutschland essen alle Leute Kartoffeln) fragte Miss Miller verwundert, genoss aber die Spätzle.

Fred hatte anfangs etwas Mühe seinen beiden Frauen das, was Scarlett Miller sagte, zu übersetzen. Aber mit der Zeit wurde er immer besser, wenn er auch manchmal sein Englischlexikon zu Rate ziehen musste. Bevor noch über das von Scarlett Miller angekündigte Erbe gesprochen wurde, fragte Beate nach ihrer Mutter. Sie wollte wissen, was das für eine Frau war und wie sie ausgesehen hat.

Scarlett holte ein Bild ihres Vaters mit Beates Mutter aus der Handtasche beschrieb ihr kurz ihre Mutter, fügte aber gleich hinzu, dass sie diese so gut wie nicht kannte, da ihr Vater diese Frau erst geheiratet hat, nachdem sie, Scarlett bereits aus dem Haus ausgezogen war. Sie hätten daher kein besonderes persönliches Verhältnis gehabt. Beate stimmte diese Beschreibung traurig, hatte sie doch gehofft, mehr über ihre leibliche Mutter zu erfahren.

Nachdem man sich bei einem Espresso darauf geeinigt hatte sich mit dem Vornamen anzusprechen, kramte Scarlett in ihrer großen Tasche und zog ein kleines Aktenbündel hervor. Sie erklärte, dass sie ein Testament mitgebracht habe, indem auch Beate bedacht wird. Als Scarlett auf den Umfang des Erbes zu sprechen kommen wollte, stoppte sie Fred. Er wollte, dass dieser bis zum Heiligen Abend geheim bleiben sollte. Das wurde auch trotz des Protestes von Beate so durchgehalten.

Nach dem obligaten Kaffee war die Dunkelheit hereingebrochen. Fred brachte Scarlett wieder zum Hotel. Da diese auf eigene Faust noch Heidelberg anschauen wollte verabredete man sich auf 13 Uhr am nächsten Tag. Scarlett musste ja noch die Feste kennenlernen.

Für den nächsten Tag hatte Fred einen englischsprechenden Führer organisiert, der sie durch die Feste führte. Scarlett war hin- und hergerissen von dem alten Gemäuer, den engen Gassen und dem einen oder andern alten Häuschen. Und schließlich konnte sie noch mit dem Burgführer auf den eigentlich in dieser Jahreszeit geschlossenen Turm steigen. Als dann wieder ein leichter Schneefall einsetzte, kam sie aus dem „How nice“ (wie schön) nicht mehr heraus.

Nach dem gemeinsamen Abendessen luden die Imhausens Scarlett ein, am nächsten Tag das Hotel zu verlassen und in ihrem Gästezimmer zu übernachten. Scarlett zierte sich zunächst, nahm aber dann doch die Einladung an.

Als Sie dann am 24. Dezember mit einem Taxi zum Dilsberg kam, war im Hause Imhausen Aktionismus angesagt. Der Weihnachtsbaum wurde geschmückt, die Holzgrippe aufgestellt, die „Weihnachtsgutseln“ in eine Schale gelegt und die bereits vorhandenen Geschenke bereitgelegt. Für Scarlett war in letzter Minute ein edler Heidelberg-Kalender besorgt worden.

Nachdem sich auch Scarlett das gewünscht hatte, wurde der Heilige Abend gemeinsam in alter Tradition gefeiert: Man ging zur Christmette, die Scarlett – obwohl sie von dem was gesagt wurde nichts verstand – ob der Musik und der Gesänge zu Tränen rührte.

Das kleine, wenn auch festliche Abendessen war für Beate eine Qual: Wann würde endlich der heimliche Vorhang geöffnet und sie konnte erfahren, was sie aus den USA zu erben bekam?

Nachdem alle um den Weihnachtsbaum saßen und Anne einige Weihnachtlieder angestimmt hatte, darunter natürlich auch das „Tschingel bells“, das Scarlett besonders bewegt hat, holte sie das kleine Aktenbündel hervor und verkündete Beate, woraus das mit ihr zu teilende Erbe bestand – den Eltern hatte sie dies schon am Vorabend mitgeteilt. Fred übersetzte: „Du, liebe Beate und ich, wir sind zwar keine richtigen Geschwister aber uns beiden zusammen gehört ein großes Haus mit sieben Zimmern und einem kleinen Park in der Nähe von St. Augustine in Florida. Und auf der Bank liegen ungefähr fünfhunderttausend Dollar, über die wir verfügen können. Ist das nicht ein schönes Weihnachtsgeschenk?“

Beate war sprachlos. Sie hatte auch spontan keine Vorstellung von der Dimension dieses Vermögens. Nichts hielt sie zurück: Sie fiel Scarlett um den Hals. Beide schluchzten vor Freude darüber, dass sie sich kennenlernen konnten. Die anderen Weihnachtsgeschenke fanden dann nicht mehr die Aufmerksamkeit, die ihnen eigentlich zugestanden hätte und bei der weiteren Unterhaltung des Abends kamen man immer wieder auf die Frage zurück, was man mit diesem Erbe machen könnte.

Im Morgen des 25. Dezember vereinbarten Imhausens mit Scarlett einen Termin in der Fastnachtswoche, zu dem sie in die USA reisen wollten, um beim Notar das Erbe zu besiegeln und erste Entscheidungen zu treffen, wie mit dem Erbe umgegangen werden soll.

Dann machten sich alle auf den Weg nach Frankfurt, denn Scarlett wollte wieder zurück nach South Carolina, um noch mit ihren Freunden Weinachten zu feiern.

Und erst am Flughafen, als sie vor dem Abflug alle noch bei einem Kaffee zusammensaßen, verriet Scarlett: „Nächstes Jahr 1.Mai heirate ich meinen Tom, den ich schon einige Jahre kenne. Da müsst Ihr auch dazukommen, denn Ihr gehört jetzt zur Familie und seid deshalb meine Ehrengäste.“

Beim Abschied vor dem Gate, flossen dann manche Tränen ob der neu gewonnen „Verwandtschaft“ die zugleich zu einer herzlichen Freundschaft geworden war.