Eine Kurzgeschichte von Ferdinand Hefemer
Im Jahr 1924, fünf Jahre nach Beendigung des furchtbaren Weltkrieges, schöpften die Dilsberger wieder Hoffnung: Die Wasserversorgung war auf einem zufriedenstellenden Stand. Viele der Kleinbauern hatten Arbeit in den nahegelegenen Lederwerken, bei der Stadt Neckargemünd oder wenigstens im Winter im Forst gefunden. Niemand im Dorf musste mehr Hunger leiden, wenn auch das Essen sehr einfach war: Die Woche über gab es Kartoffeln in unterschiedlichen Formen und am Sonntag stand in den meisten Häusern ein Stück Fleisch auf dem Tisch. In den kleinen Häusern an der Mauer der Feste herrschte drangvolle Enge: Meist lebten drei Generationen unter einem Dach, so dass bei weitem nicht jeder Bewohner ein eigenes Zimmer für sich beanspruchen konnte.
Bei Familie Maier in der Unteren Straße war das nicht anders: Die drei kleinen Schlafkammern waren von der verwitweten Großmutter Franziska Maier, dem Ehepaar Florian und Theresia Maier und deren verheirateter Tochter Luise mit Ehemann Herrmann Christ bewohnt. Der fünfundzwanzigjährige Sohn Hans hatte sich auf dem Dachboden eine notdürftige Schlafstätte eingerichtet, in der er allerdings nur in der Mitte stehen konnte. Dennoch war er glücklich, eine Ecke im Haus ganz für sich zu besitzen. Zum Essen und Aufenthalt während der Woche traf man sich in der Küche und für den Sonntag gab es eine kleine Stube mit einem großen Sessel, in dem die Großmutter auch unter der Woche ihr Mittagsschläfchen hielt.
Hans hatte nach dem Ende der Volksschule keine Lehre absolvieren können, da sein Vater nicht in der Lage war, das dafür notwendige Lehrgeld aufzubringen. Im Lederwerk „Neckaria“ in Neckarsteinach hatte er aber eine Hilfsarbeiterstelle erhalten. Dabei hatte er noch das Glück, dass er von Anfang an – da er mit vierzehn Jahren noch sehr klein war – dem Betriebselektriker zugeteilt worden war. So hatte er inzwischen einen guten Überblick über alle elektrischen Anlagen des Lederwerks und auch seine theoretischen Kenntnisse waren anerkannt. Der erfahrene Betriebs-Elektriker Hugo Braun hatte ihm viel beigebracht und ihm auch einige Fachbücher zur Verfügung gestellt.
Die Familie Meier gehörte zu den ärmeren Familien in Dilsberg: Sie lebten hauptsächlich von der sehr bescheidenen Landwirtschaft, zu der einige Wiesenstücke am Eisenfresser und vier kleinere Getreideäcker am Dilsbergerhof gehörten. Die zwei Kühe, die sie besaßen, waren gleichzeitig die Zugtiere für den Leiterwagen und die Arbeitsgeräte. Die sechs Ziegen, die meistens im nahe gelegenen Wald grasten, brachten noch etwas Milch, die fast ausschließlich zu Käse verarbeitet wurde. Von den drei Schweinen, die sie jedes Jahr aufzogen, war eines für die Familie bestimmt. Die beiden anderen wurden verkauft. Das Gemüse, den Salat und die Kräuter wurden hauptsächlich von der Mutter Maier in ihrem Garten am Hang unterhalb der Feste angepflanzt.
Hans musste von seinem Lohn das meiste zuhause abgeben, damit alle zu leben hatten und der kleine Anbau an die Scheune finanziert werden konnte, in den seine inzwischen schwangere Schwester mit ihrem Mann einziehen sollte. Aber nicht nur sein Lohn, auch seine Arbeitskraft war gefordert.
Vater und Mutter erwarteten von Hans, dass er wenigstens nach Feierabend und am Samstagnachmittag in der Landwirtschaft mithalf. Hans hatte dazu aber keine besondere Lust, zumal er den Tag über schon auch schwer zu arbeiten hatte. So nützte er jede Gelegenheit, um sich vor diesen zusätzlichen Arbeitseinsätzen wenigstens zeitweise zu drücken.
An einem Montag Anfang Juni verließ Hans die Lederfabrik bereits gegen vier Uhr am Nachmittag, um noch einer Bitte des Betriebsleiters Staudenmeier nachzukommen. Der hatte Hans nach der Mittagspause ins Büro kommen lassen, und ihn um Folgendes gebeten: „Wir wissen, dass die Mückenlocher in ihrem Wald noch einige alte Eichen haben, deren Rinde wir zum gerben gut gebrauchen könnten. Inzwischen behauptet der Mückenlocher Förster Bender aber, die Bäume gebe es nicht mehr, was ich überhaupt nicht glaube. Ich denke, der hat die Rinde bereits anderen Betrieben versprochen, die ihm unter der Hand noch einige Flaschen Schnaps zugesagt haben. Auf Bitten des Mückenlocher Bürgermeisters bekommt er von uns ja keinen Schnaps mehr. Sei nun so gut und nehme in den nächsten Tagen deinen Heimweg über Mückenloch und schaue nach, ob die in der Nähe des Sottens stehenden Bäume noch unversehrt dort stehen. Dafür kannst Du am Nachmittag um vier Uhr Deine Arbeit beenden.“
Dieser Aufforderung kam Hans noch am selben Tag nach, zumal herrlicher Sonnenschein die Natur wärmte und sein Vater für ihn heute das Ausmisten des Schweinstalles vorgesehen hatte. Nach einer knappen Stunde Fußmarsch war er vor Ort und fand insgesamt zehn prächtige, unversehrte Eichen vor. Staudenmeier hatte also offensichtlich Recht. Das „Verschwinden“ der Eichen war vermutlich schnapsmotiviert.
Hans machte sich auf den Heimweg, den er allerdings nicht direkt nehmen wollte. Er prüfte den Inhalt seines Geldbeutels und als er feststellte, dass der noch für ein Bier reichte, begab er sich direkt in die „Krone“ nach Mückenloch. Als er dort ankam, war tatsächlich schon Betrieb. Offensichtlich hatte der Gastwirt seine Feldarbeit schon erledigt oder er ließ seinen Knecht alleine arbeiten. Beim Betreten der Gaststube zog Hans seinen Kopf etwas ein. War er sich doch sicher, dass zunächst ein Schwall Spott über einen Dilsberger Gast über ihn käme.
Aber nachdem vor allem der schon angetrunkene Förster Bender am Ende seiner lästerlichen Bemerkungen angekommen war, überwog ganz schnell die Neugier der Mückenlocher: Was suchte ein Dilsberger an einem frühen Sommerabend in Mückenloch? Hans war um eine nicht ganz ernst gemeinte Antwort nicht verlegen: „Ich suche ein Frau mit einem möglichst großen Hof. Dafür würde ich selbst hier ins Tal ziehen!“
Die Männer waren verunsichert. Meinte Hans das nun wirklich ernst oder wollte er sie auf den Arm nehmen. Es hätte eigentlich sich doch bis Dilsberg herumgesprochen haben müssen, dass in Mückenloch kein großer Hof zum Erbe an eine junge Frau anstand. Lachend bemerkte Schreiner Gschwend: „Eine abgelegte halbe Witwe kannst Du haben, allerdings ohne Hof und Vermögen. Dafür hat sie aber schon einen Bankert, den du schon nicht mehr selbst zu machen brauchst!“ Der Rest seiner lästerlichen Rede ging dann zum Glück im schallenden, höhnischen Gelächter der ganzen Stammtischrunde unter.
Hans nahm seinen letzten Schluck Bier und rief schon im Weggehen der Runde zu: „Wenn ihr schon nichts Besseres und vermutlich sogar nur Evangelisches zu bieten habt, muss ich halt wieder auf meinen Berg.“ Er zahlte rasch sein Bier und verließ den Gasthof, um über die frisch gemähten Wiesen zum Dilsberg zu gehen. Das Grölen der Stammtischbrüder verfolge ihn noch eine Weile.
Als er auf der ersten Anhöhe angekommen war, blieb er für einen Moment stehen.
Er schaute sich kurz um. Da erblickte er eine junge Frau, die in wenigen Metern Entfernung frisches Heu zusammenrechte. Er erstarrte wie vom Blitz getroffen. Eine so schöne und anmutige Frau glaubte er noch nie gesehen zu haben.
Hilflos stand er da und wusste nicht, was er nun tun sollte. Als die Frau sich ihm zuwandte und ein freundliches „guten Abend“ rief, löste er sich langsam aus seiner Erstarrung und ging mit einem schüchternen „Ihnen auch einen schönen Abend“ langsam auf sie zu. Die rief lachend aus: „Seit wann sprechen sich die Dilsberger und die Mückenlocher mit ‚Sie‘ an? Du bist doch ein Dilsberger?“
Als Hans vor ihr stand, brachte er aber nur ein „Nun gut, ich bin der Hans“ heraus.
„Und ich heiße Amalie, ich bin die Tochter von Herbert und Hedwig Knauf. Ich hab‘ dich bei unserer letzten Kerwe gesehen“, bekam er zur Antwort. Dann trat für eine kurze Zeit Stille ein. Hans nahm allen Mut zusammen und fragte: „Was machst Du so?“ „Ich helfe meinen Eltern auf dem Hof und versorge meinen kleinen Samuel. Einen Mann habe ich nicht mehr, der ist vor vier Jahren über Nacht verschwunden und – wie wir inzwischen wissen – nach Amerika ausgewandert. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Er hat es als gebürtiger Holländer hier nicht mehr ausgehalten. Meine Eltern waren gegen ihn und im Dorf verspotteten sie ihn, den Molkereiarbeiter immer nur als ‚Käsemichel‘.“
Hans war erstaunt und beglückt zugleich, dass Amalie so offen ihre Lebensgeschichte erzählte. Spürte er doch dadurch plötzlich eine gewisse Nähe zu ihr.
„Ich bin der Sohn von Florian und Theresia Maier von der Unteren Straße in Dilsberg und arbeite im Lederwerk in Neckarsteinach“ bekannte er. „Soll ich Dir ein bisschen helfen? Ich sehe, du hast noch eine Gabel bei dir, da kann ich das Zusammengerechte gleich zu einem großen Haufen machen“. „Da sage ich nicht nein“, antwortete Amalie und warf ihm mit einem Lachen die Gabel zu.
Nach einer halben Stunde lag das ganze Heu auf einem großen Haufen. „Mein Vater kommt erst in einer dreiviertel Stunde mit dem Wagen. Bis dahin können wir uns an den Waldrand setzen und noch von meinem mitgebrachten Wasser trinken“ schlug Amalie vor. „Das passt gut zu meinem viertel Liter, wenn auch lauwarmen Most, den ich noch in meiner Flasche habe“, erwiderte Hans etwas nervös. Das hätte er sich am Morgen noch nicht träumen lassen, dass er heute Abend mit einer so aufregenden Frau am Waldrand sitzen würde.
Die beiden erzählten heiter und froh aus ihrem bisherigen, nicht gerade ereignisreichen Leben. Dabei fiel Hans auf, dass Amalie nichts mehr von ihrem Mann erwähnte. Offensichtlich ging sie nicht davon aus, dass sie ihn je wiedersehen würde.
Das Gespräch wurde unterbrochen, als sie Amalies Vater mit seinem Pferdewagen am Dorfrand auftauchen sahen. Amalie sagte sofort: „Es ist besser wenn Du jetzt gehst. Mein Vater könnte vielleicht ärgerlich auf Dich reagieren. Er glaubt mich nunmehr behüten zu müssen. – Sehen wir uns wieder?“ „Natürlich“ stammelte Hans, „wann bist Du wieder auf dem Feld?“ „Wenn es nicht regnet, morgen Abend auf einer Wiese im Sotten“, antwortete sie fast flüsternd.
Hans packte seine Tasche zusammen und verschwand im Wald. Als er zuhause angekommen war, musste er sich natürlich anhören, warum er sich vor dem Saustall-Ausmisten gedrückt habe. Ohne eine Erklärung abzugeben nahm Hans einen Krug Most und verschwand in seiner Dachklause. Dort schwelgte er in den Erinnerungen des frühen Abends.
In dieser Nacht fand Hans kaum Schlaf. Immer erschien ihm das Bild von Amalie vor Augen, wie sie ihn lächelnd anschaute. Ihr Strahlen wärmte ihm auch in der Nacht noch das Herz. Als er gegen Morgen doch noch eingeschlafen war, träumte er selig von einer warmen Sommernacht in den Armen Amalies.
Fast wäre er verschlafen, doch er schaffte es noch rechtzeitig nach Neckarsteinach.
Während der Arbeit war er mit seinen Gedanken oft abwesend. Er wurde aber hellwach, als plötzlich mit einem lauten Knall eine Sicherung zerbrach und Hugo Braun ihm zurief: „Wo bist du bloß mit deinen Gedanken? Hast Du Weibergeschichten?“
Hans sagte nichts dazu und versuchte sich wieder zu sammeln. Die Aussicht auf den Abend brachte ihn wieder zum Lächeln. Und den Weg zum Mückenlocher Sotten schritt er in Gedanken unentwegt ab.
Als endlich um sechs Uhr am Abend die Fabriksirene ertönte und Hans das Fabrikgelände verlassen konnte, zogen dunkle Wolken auf. Ihm rutschte fast das Herz in die Hose. Sollte der Regen sein Treffen mit Amalie vereiteln? Er schaute prüfend zum Himmel und tröstete sich damit, dass die Regenwolken vermutlich in den großen Odenwald ziehen werden. Zur Sicherheit nahm er aber eine Segeltuchplane mit, die sie in der Werkstatt liegen hatten. Mit dieser unter dem Arm machte er sich auf in Richtung Mückenlocher Wald. Heute in einer anderen Mission als gestern Abend.
Mit Bangen erreichte er sein Ziel: War Amalie trotz der Regengefahr gekommen?
Als er zu der großen Waldwiese kam, sah er sie eilig einige Reste Heu zusammenrechen, immer mit einem unsicheren Blick zum Himmel. Hans warf sein Gepäck ins Gras und lief zu ihr, um ihr zu helfen. Sie erschrak kurz, als er plötzlich hinter ihr stand aber dann zog ein freudiges Lachen auf: „Komm, hilf mir, damit wir das Heu zusammenbekommen, bevor es vielleicht regnet.“ Hans raffte das Heu zusammen und brachte es in den kleinen Schuppen, den Amalies Vater extra dafür zusammengezimmert hatte.
Gerade als sie fertig waren, fing es an zu regnen, zuerst ganz sachte, dann aber immer heftiger. Hans und Amalie setzten sich auf den Heuhaufen und hielten sich schweigend die Hände. Nach einer Weile brach Amalie das Schweigen: „Ist das nicht wunderbar, dass es solche Funken gibt, die plötzlich zwischen zwei Menschen Verbindungen schaffen?“ Hans war zunächst sprachlos. Er schaffte es dennoch, ein „Find ich auch!“ herauszubringen. Dann füllte wieder wohliges Schweigen den kleinen Schuppen.
Nachdem der Regen auch nach einer Stunde noch nicht aufgehört hatte, drängte Amalie zum Aufbruch: „Ich muss jetzt trotz Regen losgehen. Meine Eltern machen sich sicherlich schon Sorgen und Samuel will heute von mir ins Bett gebracht werden.“ „Ich nehme Dich unter meinen Regenschutz“, bot Hans sogleich an. Amalie aber zögerte, war sie doch sicher, dass das zu Gerede im Dorf und zu Ärger mit ihrem Vater führen würde. Sie gab sich aber einen Ruck. Sollte sie eine Chance, wie sie sich jetzt anbahnte, ausschlagen, nur weil ihr Vater um seinen vermeintlichen Ruf fürchtete?
Sie drückte Hans einen vorsichtigen Kuss auf die Wange und schlüpfte unter sein Segeltuch. So beschützt trafen sie auf dem Hof der Knaufs ein, wo Herbert mit in die Seite gestützten Händen im Türrahmen stand. An seinem hochroten Kopf konnte man erkennen, dass er offensichtlich eine höllische Wut im Bauch hatte. Und so platzte es aus ihm raus: „Was erlaubt ihr euch da? Willst Du unseren Ruf im Dorf vollends ruinieren? Wer ist dieser Kerl überhaupt? Womöglich noch einer vom Dilsberg?“ Als er Luft holte, fiel Amalie ein: „Was willst Du denn, Hans kam zufällig am Sotten vorbei, als es zu regnen anfing und hat mich unter sein Segeltuch schlupfen lassen, damit ich nicht nass werde!“ Aber weder der Vater noch die inzwischen aus der Küche hinzu geeilte Mutter glaubten an den Zufall. Sie merkten sofort, dass die beiden sich nicht zufällig getroffen hatten. Hans wollte sich gerade vorstellen, da kommandierte Herbert: „Du kommst jetzt rein und Du verschwindest ganz schnell dorthin, von wo du hergekommen bist.“ Da nahm Hans allen Mut zusammen und reagierte mit erregter Stimme: „Ihre Tochter und ich sind erwachsene Menschen, die sich von niemandem etwas vorschreiben lassen müssen. Ich gehe jetzt nach Hause und komme wieder, um Ihre Tochter zu sehen, da können sie sich sicher sein.“ Und noch ehe Herbert Knauf reagieren konnte war Hans verschwunden. Stolz darauf, dass er sich gegen die Bevormundung durch Amalies Vater gewehrt hatte, zog er auf den Dilsberg, wo er die nächste Rechtfertigung, diesmal für sein Zuspätkommen abgeben sollte.
Die ganze Familie Maier saß noch beim Abendessen und wartete darauf, ob Hans heute eine Ausrede für seine Verspätung anbringen würde. Da holte Hans tief Luft und begann kurz und unumwunden darzustellen, warum er zu spät kam und welche Person ihn „aufgehalten“ hatte.
Die Eltern und die Schwester blieben zunächst sprachlos. So eine plötzliche Verliebtheit hätten sie Hans nicht zugetraut. Aber nach dem zweiten Glas rasch getrunkenen Mostes legte Florian Maier los: „Eine Frau aus Mückenloch, die evangelisch und sogar noch verheiratet ist! Bist Du denn von allen Geistern verlassen? Erzähle ja niemand im Dorf etwas von dieser Geschichte, sonst bekommst Du es mit mir zu tun. Ich verbiete Dir jeden weiteren Kontakt zu diesem Flittchen! Die hat an Dir doch nur Interesse, weil sie damit ihren fragwürdigen Ruf im Dorf beseitigen will. Kapierst Du denn nicht, wofür du hier benutzt wirst?“ Und die Mutter fügte hinzu: „Hans, geh am Samstag zur Beichte und rede mit dem Pfarrer darüber. Dann wird schon alles wieder in Ordnung kommen.“
Es musste nicht Samstag werden. Schon am Abend des nächsten Tages, den Hans ganz alleine, nur mit der Erinnerung an Amalie verbringen musste, wurde er auf dem Weg zu den Ziegen in der Oberen Straße von Pfarrer Hecht aufgehalten. Der bat ihn, kurz ins Pfarrhaus zu kommen. Hans zögerte, sah aber keine Chance, das Gespräch mit Hecht zu vermeiden.
Als er im Amtszimmer des Pfarrhauses gegenüber dem Schreibtisch des Pfarrers Platz genommen hatte, fragte dieser scheinheilig: „Hast Du mir etwas zu erzählen?“ Ganz offensichtlich hatte die Mutter am Morgen nach dem Rosenkranzgebet dem Pfarrer von seiner Beziehung erzählt. Hans nahm allen Mut zusammen und antwortete so, wie es den Pfarrer verärgern musste: „Ich wüsste nichts, was ich Ihnen mitzuteilen hätte.“ Hecht schluckte kurz, dann brach es aus ihm heraus: „Ich weiß alles. Ich habe heute auch schon mit Herbert und Hedwig Knauf aus Mückenloch gesprochen. – Ja wenn es sein muss, rede ich auch mit den Evangelischen. – Wir, Deine Mutter, die Knaufs und ich sind einer Meinung, dass wir Dich und Amalie davon abhalten müssen, ins Unglück zu rennen. Amalie ist nicht nur evangelisch. Sie ist auch noch verheiratet. Und wenn sie sich auch scheiden lässt, was in diesem Land ja nun leicht möglich ist, dann kannst Du sie immer noch nicht heiraten, weil wir keine Geschiedenen trauen. Und wie soll sie überhaupt geschieden werden, wenn kein Mensch weiß, ob ihr Mann noch lebt und wo er sich aufhält? – Ich hoffe, du siehst ein, dass es unmöglich ist, mit dieser Frau weiterhin Kontakt zu halten.“ Bevor Hecht weiter sprach, trat zunächst eine lähmende Stille ein, die Hans nicht zu füllen bereit war.
Dann fuhr der Pfarrer fort: „Schau dich nach etwas anderem um. Die Tochter von Gustav Ohlhauser am Dilsbergerhof, die Eva, die ist zwar nicht besonders hübsch aber eine gute Schafferin. Die ist noch zu haben und einen Hof gibt es noch dazu. Zwar ist der nicht so groß, dass davon zwei Familien leben könnten. Aber Du hast ja eine gute Anstellung und wirst auch vom Hof nach Neckarsteinach kommen.“
Hans kochte vor Wut. Was bildete sich dieser Pfarrer ein, ihm seine Beziehungen vorzuschreiben? Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte ihn richtig geschüttelt, den Moralapostel, der schon so viele junge und auch ältere Paare auseinandergebracht hatte, weil ihre Beziehungen angeblich den Moralvorstellungen der katholischen Kirche nicht entsprächen. Aber Hans fasste sich, erhob sich langsam, stellte sich vor Hecht auf und sagte zwar erregt aber in ruhigem Ton: „Ich lasse mir weder von ihnen, noch von meinen Eltern noch von irgendjemand anderem vorschreiben, wen ich lieben darf. Ich kenne auch keine Bibelstelle, die mir diese Liebe verbieten würde. Das ist alles, was ich zu sagen habe.“ Mit einem ziemlich lauten „Adieu“ verließ er rasch den Raum, ohne dass Pfarrer Hecht auch nur noch ein Wort loswerden konnte.
Hans war von diesem Gespräch und der Verschwörung, die sich um ihn und Amalie herum aufgebaut hatte, so geladen, dass er einfach darauf los lief. Als er nach einigen Kilometern wieder einen klareren Kopf erlangt hatte, beschloss er nach Mückenloch abzubiegen. Irgendwie musste er Amalie heute noch treffen.
Es war schon dämmrig als er hinter dem Hof der Knaufs angekommen war. Er wartete einen Augenblick, dann sah er aus der Hintertür Amalie heraustreten, einen Korb in der Hand, den sie offensichtlich zum Stall bringen wollte. Hans pfiff vorsichtig und schon schoss Amalie auf ihn zu. Als sie sich eine Weile in den Armen hielten, seufzte sie: „Ich bin nun schon das dritte Mal auf dem Weg in den Stall, jedes Mal in der Hoffnung, Dich zu treffen.“ Sie zogen sich in eine lauschige Ecke der Scheune zurück.
Nach einer Weile hörte man Hedwig Knauf rufen: „Amalie, wo bist Du denn? Ist etwas passiert?“
Beide überlegten kurz, wie sie reagieren sollten. Da schlug Amalie vor: „Lass uns einfach gemeinsam rausgehen. Wir haben eigentlich nichts zu verheimlichen.“ Hans war zunächst etwas konsterniert, wusste er doch dass Herbert Knauf zu jähzornigen Ausbrüchen neigte. Dennoch fasste er allen Mut zusammen und ging mit Amalie auf den Hof. Der Vater stand inzwischen neben seiner Frau Hedwig in der Tür. Einen Augenblick trat tiefes Schweigen ein. Dann brüllte Herbert los: „Was ist hier eigentlich los! Bin ich im Irrenhaus. Meine verheiratete Tochter poussiert in meiner Scheune mit einem dahergelaufenen Dilsberger!“ Hedwig konnte ihn gerade noch abhalten, mit der von ihm schon ergriffenen Heugabel auf Hans loszugehen. Dann versuchte sie die Situation zu beruhigen, indem sie vorschlug, am Küchentisch über alles in Ruhe zu reden. Nach einer Weile schnaubte Herbert: „Ich lasse aber höchstens noch einmal mit mir in dieser Sache reden. Dann muss ein für alle Mal Schluss sein.“
Das Gespräch war kurz, weil es für alle Seiten nichts Neues zu sagen gab. Alle vier Beteiligten bestanden auf ihren jeweiligen Standpunkten. Als schließlich Herbert Hans drohte, falls er noch einmal hier auftauchen sollte, ihn mit allem was ihm zur Verfügung stand, vom Hof zu jagen, sprang dieser wortlos auf und rannte aus dem Haus. Amalie folgte ihm, obwohl sie Hedwig daran zu hindern suchte. Vor dem Hoftor flüsterte Amalie Hans zu: „Morgen Nacht um 11 Uhr hinter Marias Haus!“
Maria war Amalies Schwester und Samuels Patin. Sie war mit dem Dorfschmied verheiratet, hatte selbst aber keine Kinder. So war sie eine begeisterte Ersatzmutter für Samuel.
Amalie packte am nächsten Morgen, die notwendigsten Sachen, um zusammen mit Samuel in den inzwischen verwaisten Altenteilanbau an der Schmiede zu ziehen. Herbert tobte, Hedwig weinte, aber Amalie zog wortlos aus.
Sie verrichtete weiterhin ihre Arbeit auf dem Hof, nahm auch die meisten Mahlzeiten mit ihren Eltern ein, lehnte aber jedes Gespräch über ihre Zukunft ab.
So vergingen die nächsten Wochen und Monate. Fast jeden Abend, wenn die Maiers sich in Dilsbergs Unterer Straße schlafen gelegt hatten, verschwand Hans und tauchte irgendwann mitten in der Nacht wieder auf. Bei Amalie zu übernachten trauten sich beide nicht, da ihre Schwester und ihr Schwager ebenfalls um ihren Ruf und eine Strafanzeige wegen Kuppelei fürchteten.
Dieser Zustand war für alle nicht mehr tragbar. Amalie und Hans verzehrten sich immer mehr in ihrer aussichtslosen Lage. Diese wurde auch deswegen immer unerträglicher, weil es in beiden Dörfern immer öfter zu offenen und versteckten Angriffen auf die beiden kam:
So hat der Mückenlocher evangelische Geistliche auch Hedwig ins Gebet genommen und ihr unverblümt Höllenqualen angedroht. Was sie aber am meisten traf, war sein Vorwurf, sie zerstöre Samuels Leben, weil ihre Sünde auf diesen überginge. Das konnte doch mit dem Erlösungsgedanken des Christentums, so wie sie ihn verstanden hatte, nie und nimmer etwas zu tun haben.
Hans konnte sich auf keiner Feier und auf keinem Fest sehen lassen, ohne dass er auf seine „Mückenlocher Kurtisane“ angesprochen wurde.
Es gab aber auch mehr oder minder heimliche Unterstützung. Der Dilsberger Metzger und Sonnen-Wirt Eduard Blickle, ein eingeheirateter Schwabe spendierte Hans bei jeder Möglichkeit ein Freibier und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. Franz Schulte, der früher sehr geschätzte und nunmehr pensionierte Lehrer, der nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland wieder nach Dilsberg zurückgekehrt war, riet Hans ganz offen, sich nicht von kleinkarierten Moralpredigern unterkriegen zu lassen und am besten mit Amalie aus der Gegend zu verschwinden.
Amalie bekam in Mückenloch Unterstützung von der mutmaßlich vermögenden Witwe Lehr, die als Außenseiterin im Dorf galt. Am meisten war sie aber verblüfft, dass frühere Schulkameradinnen, die als brave Bürgerinnen des Dorfes galten, ihr – wenn auch heimlich – Mut machten und ihr stille Unterstützung anboten.
So verging der Herbst. Der Winter sandte sein ersten Vorboten aus und die Hoffnung für Hans und Amalie, als ein Paar normal zusammenleben zu können, schien immer mehr zu schwinden.
Am ersten Advent sammelten sich in Dilsberg schon vor der Messe viele Leute am Kircheneingang und tuschelten: „Seit Freitag ist der Hans verschwunden und Amalie, so hört man aus Mückenloch, sei auch nicht mehr aufzufinden.“ Niemand wusste, wo die beiden waren. Es wurden allerhand Mutmaßungen angestellt, die von gemeinsamem Selbstmord bis zur Verschleppung reichten.
Die Auflösung des Rätsels kam zu Weinachten:
Die Familien Maier und Knauf erhielten jeweils eine Postkarte aus Bremerhaven mit gleichlautendem Text: „Wir begeben uns heute auf ein Schiff nach Südamerika. Ihr habt uns ja keine Chance gelassen. – Hans und Amalie.“
Danach hat man von den beiden nie mehr wieder etwas gehört. Auch war nie zu erfahren, wer für Hans und Amalie die Reise organisiert hatte und woher sie das Geld dafür hatten.
Samuel wurde von seiner Tante adoptiert und übernahm die Schmiede in Mückenloch, die er zu einem Landmaschinenhandel ausbaute.