Ein Dilsberger Ur-Gestein, geboren in Mähren… Teil II

Der Lebensweg eines nach Dilsberg zugezogenen Vertriebenen

verfasst von Walter Berroth

II

Erste Unterbringung in Dilsberg

Nach zwei Tagen in diesem Lager kam die Nachricht, dass die Familien, also Kurts Familie und die beiden verwandten Familien, abgeholt und in ein Dorf namens Dilsberg verbracht würden.

Nach einer weiteren, am Boden zugebrachten Nacht machte sich Familien Heger zur Abholung bereit, gespannt darauf, was wohl auf sie zukommen wird. In dem Durcheinander von Fahrzeugen, die alle den Auftrag hatten, Flüchtlinge und Vertriebene abzuholen, fiel ein uralter LKW mit Holzvergaser auf: Darin saß Walter Roth, der neben seiner Landwirtschaft noch die Transporte für Dilsberg und die nähere Umgebung erledigte.

Mit Bangen aber auch mit Neugier bestiegen die drei Familien die Ladefläche des Lastwagens. Langsam und holpernd ging es dann durch die Rheinebene. Nach einer knappen Stunde Fahrt standen die Berge vor Ihnen. Walter Roth musste zunächst den Holzvergaser neu mit Holz bestücken, damit das Fahrzeug auch genug Kraft hatte, die vor ihnen liegenden Hügel und Berge zu bewältigen. Es dauert schließlich fast drei Stunden, bis der letzte Berg vor ihnen lag, den der Lastwagen gerade noch bewältigen musste: Die Auffahrt nach Dilsberg. Die Kinder, die die ganze Zeit die aufmerksam die Gegend beobachtet hatten, waren froh, dass sie nun wenigstens in einen Ort kamen, der wie F von Hügeln umgeben war und wenigstens eine Burgruine besaß, wenn diese auch nicht mit dem großen Schloss ihrer Heimatstadt zu vergleichen war.

Mit letzter Kraft schaffte es der Lastwagen bis vor das Tor zum Eingang eines großen Gebäudes mit der Aufschrift „Schöne Aussicht“. Dort standen bereits zwei Personen, die die Vertriebenen-Familien im Empfang nahmen: Luise Zapf, die Ehefrau des noch in Gefangenschaft verbliebenen Gastwirtes Julius Zapf und Bürgermeister Karl Wirth. Die Begrüßung war nicht gerade von großer Herzlichkeit geprägt. Man merkte den beiden an, dass die Situation, statt Gästen fremde Leute aus einem ganz anderen Land mit einem ganz anderen Dialekt und ohne jeglichen Besitz unterbringen zu müssen, sie eigentlich überforderte und ihnen auch zuwider war.

Und wieder wurden die Familien in Sälen untergebracht: In den beiden großen Gasträumen, die zur „Schönen Aussicht“ gehörten. Hier konnten die einzelnen Familien sich schon ein bisschen mehr abgrenzen, als es in den großen Hallen in F und Hockenheim der Fall gewesen war. Die Verpflegung war kärglich, denn in der Nachkriegszeit gab es in Deutschland überall Not an Lebensmitteln und nur wenige konnten sich richtig satt essen.  

Alle Vertriebenen wurden nun ordentlich registriert und die Kinder der örtlichen Volksschule zugeordnet.

Nach einigen Monaten hieß es wieder umziehen: Diesmal in die Jugendherberge, wo den Familien dann nicht in den Schlafräumen, sondern wieder in einem Saal, dem großen Speisesaal untergebracht waren, abgetrennt durch ein paar Decken oder zerschlissene Tücher.

Die Ernährungssituation

Die Mütter mussten mit den wenigen Lebensmitteln, die sie zur Verfügung gestellt bekamen, versuchen, die hungrigen Mäuler zu stopfen. Dazu kochten sie abwechselnd in der Jugendherbergsküche. Kurts Mutter bekam die Chance, bei einem Bauern auszuhelfen, wofür sie mit Lebensmitteln bezahlt wurde.                                        

Die Kinder versuchten auch zur Ernährungssituation beizutragen, indem sie – nachdem die Getreide- oder Kartoffeläcker abgeerntet waren – eine Nachlese durchführten. Sie lasen die liegengebliebenen z.T. beschädigten Kartoffeln und Körner auf. Und am Langenzeller Hof gab es auch für Kinder und Jugendliche in der Sommersaison die Möglichkeit zur Lohnarbeit wie Erbsenzopfen, Unkraut aus Rübenäckern jäten u.a.. Dafür gab es dann ein paar Pfennige. Wichtiger war aber das Vesper, das dazu gehörte: Ein Brot mit weißem Käse war für sie die höchste Delikatesse!

Diese Erntehilfe war aber kein Honigschlecken: Die Kinder standen immer unter Aufsicht von Erwachsenen, die sie mit z.T. mit Drohungen, und Beschimpfungen zu ständig schnellerer Arbeit anzutreiben versuchten.

Nun war wieder Schule angesagt

Obwohl Kurt bei der Ankunft in Dilsberg bereits elf Jahre alt war, kam er – da er ja mehr als eineinhalb Jahre keinen Schulunterricht gehabt hatte – zunächst in die kombinierte Dritte-Vierte-Klasse. Und dort stand er zusammen mit seinem Bruder und Kindern aus anderen Vertriebenen- bzw. Flüchtlingsfamilien auf dem Schulhof den einheimischen Kindern gegenüber, die in einem Dialekt sprachen, den die neu Hinzugekommenen ebenso wenig verstanden, wie die Einheimischen die ihnen fremden Dialekte aus den Ostgebieten. Dazu kam die Situation, dass die Bauernkinder in der Pause z.T. Vesperbrote mit Wurst auspackten, während die Kinder der Zugewiesenen froh sein konnten, wenn sie einen Kanten trockenes Brot zu essen hatten.

Auch manche der Lehrer und die eine Lehrerin verteilten ihre Sympathie eindeutig zugunsten der Einheimischen und ließen die Zugezogenen spüren, dass sie hier eigentlich nicht willkommen waren. Diese Situationen führte natürlich zu Abgrenzungen bis hin zu Feindschaften und das Schimpfwort „Ihr Ostzigeuner“ war da schnell geboren.

Die Schule war in zwei Gebäuden untergebracht: Zwei Klassen waren im Kommandantenhaus und zwei in der sogenannten Neuen Schule an der Steige. Die Lehrkräfte wohnten in der Regel vor Ort:  Ein Lehrerehepaar im Schulhaus und der Schulleiter im Lehrerhaus in der Feste. Der Unterricht war für die Schüler selten begeisternd, auch weil die Lehrer ohne besondere Fantasie ihren Lehrstoff vermittelten und viel mehr auf Ordnung und Disziplin setzten: Fast alle Lehrkräfte versuchten durch unterschiedliche körperliche Strafen die Schülerinnen und Schüler in Schach zu halten. Einer der Lehrer verteilte Tatzen auf die Hand, wobei der betroffene Schüler die Gerte für die Tatze selbst besorgen musste. Seine Frau zeichnete sich dadurch aus, dass sie besonders schmerzhaft die Backen kneifen konnte und ein weiterer Lehrer, der aktiver Handballer war, schlug mit flacher Hand zu, falls er sich gestört, veräppelt oder angegriffen fühlte. Nur der als Schulleiter eingesetzte Lehrer hatte einen besonderen Draht zu den von ihm zu unterrichtenden Kindern und kam so ohne körperliche Züchtigungen aus.

Allerdings, das gibt Kurt unumwunden zu, versuchten sowohl einheimische als auch zugezogene Kinder – und hier fast ausschließlich die Jungen – mit allerhand mehr oder weniger fantasievollen Streichen den ungeliebten Lehrern und der Lehrerin das Leben schwer zu machen und sie auf die Schippe zu nehmen. Deshalb nahm er und seine Schulkameraden das Ganze als eine Art Spiel wahr, bei dem einmal die eine Seite verlor und einmal die andere. Seelischen Schaden hat dabei kaum jemand genommen. Man sah sich dadurch eher für das Leben gestählt.

Endlich ein abgeschlossener Wohnraum für die Familie

Ein ganzes Jahr lang musste die Mutter H mit ihren Kindern in der Jugendherberge verbringen, bis sie eine Wohnung, besser gesagt ein Zimmer für die Familie in einem kleinen Haus in der Feste gegenüber der katholischen Kirche zugewiesen bekam. Das kleine Häuschen bestand aus je zwei Zimmern im Untergeschoss und zwei Zimmern im Obergeschoss. Im Untergeschoss, das noch eine Küche hatte, wohnte eine Familie mit einem Kind. Das große Zimmer im Obergeschoss war der Familie H zugewiesen worden. Der alleinlebende Hausbesitzer, dem man die Flüchtlingsfamilien zugewiesen hatte, musste mit dem kleinen Zimmer im Obergeschoss Vorlieb nehmen.

Das bedeutete: Familie Heger musste in dem ihr zugewiesenen Zimmer sowohl wohnen und schlafen als auch kochen, essen und Schularbeiten erledigen. Selbstverständlich gab es nur eine Toilette für alle acht Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses und die lag außerhalb des Hauses im Untergeschoss und konnte nur durch die Küche der in diesem Geschoss wohnenden Familie erreicht werden.

Nach wie vor gab es im Dorf zwei Gruppen bzw. zwei Klassen, auch wenn die gegenseitige Verständigung mit den unterschiedlichen Dialekten unter den Kindern inzwischen funktionierte. Die Flüchtlingskinder und die einheimischen Kinder spielten in der Regel jeweils getrennt miteinander und nicht selten gab es auch körperliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden sich eher feindlich gegenüberstehenden Gruppen. Es sollte einige Jahre dauern, bis sich dieser Zustand langsam auflöste.

Fortsetzung folgt…